Armes Mittelmeer…

Da hat der Autor der heutigen Süddeutschen Zeitung Gustav Seibt „seinen Braudel gelesen“. Aufgrund der Nichtanwesenheit des folgenden Artikels im Internet, hier seine Abschrift. In dieser Braudelschen Totalaufnahme, die einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten sieht, ist der Süden Europas dem finalen Niedergang geweiht. Oder steckt in diesem Aufsatz doch ein Hoffnungsschimmer oder zumindest die Erkenntnis, dass der Süden Europas nicht ohne den Norden Afrikas gedacht werden kann und sich ihm öffnen muss, sprich die EU sich dem Orient, Afrika öffnen muss? Dieser Blog besitzt rechterhand eine Kommentarfunktion…

Seibt, Gustav (1.8.2011): Armes Mittelmeer. Die Krise des Euro erneuert eine alte Struktur des Kontinents. In: Süddeutsche Zeitung, S. 11.

„Die europäischen Schuldenkrisen zeigen, wie immer die finanztechnisch gelöst werden, jetzt schon eine Achsenverschiebung in der Wohlstandsverteilung auf dem Kontinent an. Der Kalte Krieg hatte Europa ein Reichtumsgefälle in West-Ost-Richtung hinterlassen. Doch lässt sich jetzt schon absehen, dass der Vorkriegszustand , als die Linie Wien-Prag-Danzig, ja selbst die Achse Lemberg-Warschau-Königsberg noch Kernzonen europäischen Reichtums umschlossen, bald wiederhergestellt werden könnten. Bis 1939 war die Tschechoslowakei reicher als die Schweiz und selbst Polen ein weithin prosperierendes Land. Die aktuellen Wachstumsraten zeigen in diesen Ländern wieder in diese Richtung. Im selben Moment stürzen Griechenland. Italien, Spanien und Portugal ab, mit möglicherweise dauerhaften Folgen.

Die Achse, auf der sich der Wohlstand verteilt, dreht also möglicherweise schon in der jetzt lebenden Generation ihre Richtung: von West-Ost zu Nord-Süd. Das Mittelmeer wird wieder arm, es fällt im Verhältnis zum europäischen Norden auf seinen Vorkriegszustand zurück. Zu diesem Prozess mögen die von einer verfehlten EU-Politik mitbeförderte Re-Osmanisierung der Türkei – ihre Rückwendung in den Orient – ebenso beitragen wie die Krisen Nordafrikas. Es ist inzwischen vielleicht angezeigt, die aktuellen Verschiebungen in die langfristigen Entwicklungen der europäischen Geschichte einzuordnen.

Der erste Reichtum des nachantiken Europas wuchs im hohen Mittelalter am Mittelmeer, in den Seestädten Italiens, Südfrankreichs und Spaniens, den Drehscheiben des Handels zwischen Orient und Nordeuropa. Von dort strahlte er aus auf die im Wohlstand nachfolgenden Stadtlandschaften des Burgunds, der Niederlande und Norddeutschlands. Doch kamen für drei Jahrhunderte Luxus, Fortschritt und Lebensstil vor allem aus Italien, das im Zentrum dieser Struktur lag. Das änderte sich fast schlagartig, als mit der Eroberung Konstantinopels durch di e Türken  und der Entdeckung Amerikas die überkommenen handelswege verlegt wurden. Italien fiel in seine barocke Lethargie, verbauerte und refeudalisierte sich, bis zur Mumienhaftigkeit Venedigs und Genuas im 18. Jahrhundert, ja bis zu jener Erstorbenheit im Kirchenstaat, die ihn noch im 19. Jahrhundert zur Attraktion fortschrittsmüder Nordeuropäer machte.

Dynamik und überquellender Reichtum wuchsen dagegen in Holland und England, die nach dem Versiegen des südamerikanischen Goldflusses auch Spanien überrundeten. Deutschland, vor dem dreißigjährigen Krieg eins der reichsten Gebiete Europas, zerlegte sich im Religionskrieg selbst und holte bis zu Napoleon nicht mehr auf. Der holländische Wohlstand ruhte auf dem Fernhandel, bei England kam seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Industrialisierung hinzu, die auf dem Kontinent erst ein knappes Jahrhundert später nachgeholt wurde. Um 1900 herrschte immer noch ein deutliches Gefälle zwischen Nord- und Mitteleuropa einerseits und den Ländern am Mittelmeer andererseits. Spanien, Italien, gar Griechenland fanden nur ganz punktuellen Anschluss an die industrielle Welt.

Daran vermochte auch das 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wenig zu ändern. Allein Norditalien gelangte auf einem mit Nachbarländern wie Österreich, de Schweiz und Frankreich vergleichbaren Industrialisierungsgrad. Dagegen zeigen Literatur und Reiseberichte – übrigens auch die Fotografie, man denke an Herbert List – aus den eigentlichen Mittelmeerregionen Verhältnisse von urtümlicher Bescheidenheit, die wiederum gebildete Wohlstandsflüchtlinge aus dem Norden anzogen.

Das änderte in den vierzig Jahren des Kalten Krieges mit seiner Aussperrung Osteuropas  erst die Europäische Union. Sie versprach den südlichen Ländern nicht de jure, aber faktisch gleiche Lebensverhältnisse. Agrarsubventionen, Infrastrukturmaßnahmen und gezielte Industriepolitik, auch der stark erleichterte Massentourismus, schlossen den Süden unübersehbar ans nördliche Niveau an. Der Ausgleich schien nur noch eine Frage der Zeit. In den neunziger Jahren war das Dreieck zwischen Mailand, Turin und Novara die produktivste Region der Welt.

Wenn sich dieser Generationstrend jetzt umdrehen sollte – und wie soll man sich beispielsweise einen neuen griechischen Wohlstand vorstellen?-, dann wäre die nur eine neue Großraumverschiebung, wie es deren in der Geschichte des europäischen Reichtums schon mehrere gab. Der unterschied heute aber wäre: Die neue Armut am Mittelmeer hätte, da sie nach einem Boom kommt, nichts Archaisches und damit Genügsames mehr. Es wäre eine Armut ohne Würde und Schönheit, eher das Elend der Verkommens, sichtbar zum Beispiel in den Ruinen der spanischen Immobilienblase. Schon jetzt zeichnet sich eine neue Arbeitskräftebewegung von Süden nach Norden ab. Aber diesmal kommen nicht ungelernte Bauernkinder, sondern Hochqualifizierte, die in Spanien oder Italien keine Stellungen finden. Auch diese Bewegung wird die neue Struktur befestigen.“

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