Nahverkehr verquer

Der Frühbucher kommt von Kiel nach Köln für gut zwanzig Euro. Wer sich hingegen mal eben in den Zug setzen will, versteht was gemeint ist mit „Nahverkehr verquer“. Der Düden, wie die Titanic zur Zeit der Rechtschreibreform das bekannte Nachschlagewerk nannte, kommt nüchtern daher: „schräg, schief, quer und nicht richtig, nicht wie es sein sollte“ ist da zu lesen. Nahverkehr ist demnach, könnte man sagen, zu teuer, dauert zu lange und führt zu einer gewissen Form von Frust: Wie schön ist doch die Reise in einem exklusiven Schnellzug, der nicht Express, genauer Regionalexpress, sondern Intercity oder Intercity-Express heißt und schlappe zwanzig Euro kostet, von Kiel nach Köln. Genauso viel wie eine Fahrt von Kiel nach Hamburg im Regional-Express, tja, verquer.

Das ist die eine Definition im Düden, klingt moralisch; das muss hier nicht sein. Die andere lautet: „in etwas seltsamer Weise vom Üblichen abweichend, absonderlich, merkwürdig“. Nach dieser Definition kann so eine Reise in einem Nahverkehrszug alles andere als frustrierend sein. Wenn wir noch die Synonyme des Düdens strapazieren – im Ansatz schon mit den Definitionen schräg oder schief angedeutet – wird dem Nahverquersteilnehmer klar was passieren kann: „absonderlich, eigenartig, eigentümlich, kauzig, kurios, merkwürdig, paradox, quer, schief, wunderlich“ steht da geschrieben. Auf eine verquere Fahrt!

Beginnen wir beim Lösen der Fahrkarte. Um der Bahn ein Schnippchen zu schlagen begibt sich der preisbewusst Reisende nicht direkt an den Bahnschalter. Stattdessen lümmelt er oder sie vor einem der Fahrkartenautomaten herum und wartet auf die Frage: Hamburg? Ab Kiel ist das eine rhetorische Frage, andere Ziele gibt es nicht. Zwei junge Deutsch-Türken ergänzen: kostet 10 Euro! Für gewöhnlich zahlt der auf einem Länderticket Mitfahrende acht Euro. „Das lohnt nicht, Alter! Ja, gut, wenn wir noch andere finden, wird das billiger. In einer viertel Stunde im Raucherbereich!“ Dass es inzwischen selbsternannte Profis gibt, die tagtäglich auf einer Strecke hin- und herfahren, weiß der Länderticket-Hitchhiker spätestens seit einem Telefonat des Ticketinhabers: „Ich kann gerade nicht, bin am arbeiten, Mann!“

Eine viertel Stunde später erscheinen die beiden Jungs im Raucherbereich. Im Schlepptau haben sie vier weitere Personen. Das ist eine zu viel. Da weder der eine noch der andere Lust hat sich am Abend in den Zug zu setzen, um später nach Kiel zurückzufahren, ändern sie ihren Plan: „Kauft Ihr Ticket?!“ Da keiner von uns Fünfen den Nachnamen des vorherigen Ticketinhabers trägt – so zumindest unsere naheliegende Vermutung – bilden wir spontan eine eigene Gruppe und haben so weniger als acht Euro zu zahlen. Danke. Eine Mitfahrerin wirft ein: Im Prinzip müßten wir den beiden eine Provision zahlen. Die beiden Tagelöhner haben aber längst ihren Job an den Nagel gehängt und ziehen davon.

Hamburg, Gleis vierzehn, der Luxus-Zug aus Kiel fährt ein, nach kurzem Aufenthalt geht es direkt nach Köln. Raucherpause denkt sich eine Frau. Da fährt der Zug schon ab. Die Frau realisiert ihre Situation: Sie nur mit einem Pullover bekleidet, mit Zigarette in der Hand, nicht in dem Zug, der sie nach Köln bringt. Verzweifelt rennt sie zu der vom Schaffner noch geöffneten Türe und brüllt nach ihrem Mann: Ronny!!!! Mit allen Kräften läuft sie fünfzig Meter mit dem Zug, der schon zu schnell ist. Ronny!!! Brüllt sie mit letzter Verzweiflung, Rooooonnnnnyyyy! Zug weg, kaum Kleidung an, aber Zeit zu rauchen…

Weiterfahrt von Hamburg nach Bremen: Das Bremer Semesterticket erlaubt die preiswerte Nahverkehrsfahrt ohne weitere Tricks. Gegenüber, in einem der Viererabteile sitzen Mann und Frau und teilen sich billige Schokoriegel gerecht auf. Aus der Handtasche, die der Mann neben sich platziert hat, schaut plötzlich ein glubschäugiges Wesen hervor: ein Hund! Die Frau findet das so drollig, dass sie den Fotoapparat verlangt: Naa, sagt der Mann mit österreichischem Akzent, der muss jetzt schlafen, küßt und knuddelt die mir unbekannte Rasse zurück in die Mopstransporttasche und verschließt den mit unsichtbaren Luftkammern versehenen Beutel, Hund weg. Der inzwischen alkoholfreie Pendlerzug, Metronom genannt, schleicht in Richtung Bremen, die Passagiere spielen an diversen Gerätschaften herum und vertreiben sich die Zeit, alles ist ruhig. „Die Fahrscheine, bitte!“ bellt die Schaffnerin. Womit sie nicht gerechnet hat: Die Tasche bellt zurück! Einem Herzinfarkt nahe zuckt sie zurück, schüttelt sich vor Aufregung und macht sich davon. Die frische Luft bei dem nächsten Zwischenstopp wird ihr guttun.

„Passen Sie auf, dass Ihre Tragetasche nicht eines Tages abhaut!“ kichert der Reisehalbleiter. An der Bushaltestelle in Bremen sehe ich noch wie die Hunde diverser Punks einem Mann mit einer Tragetasche hinterher bellen. Naaverquer, diese Ösis.

In diesem Sinne wünscht der Reisehalbleiter eine gute Fahrt ins nächste Jahr: Guten Rutsch!

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