Silenzio stampa: Reden wir vom Wetter

 

 

 

 

 

 

 

 

Ballarò, 1. Juli 2012, 20:45 Uhr. Voller Spannung sitzen, stehen, kreischen, singen, brüllen, hupen, lärmen und tröten die Ballaroten. Menschenmassen haben sich in der Kathedrale des Fußballs versammelt.

Ballarò, 1. Juli 2012, 22:33 Uhr. Statt auf der Leinwand die Siegerehrung zu verfolgen, hört und sieht man Pink Floyd auf der Leinwand. Die nahezu einzige Soundkulisse. Kein Hupen, Tröten, Pfeifen, Trällern, Applaudieren. Nix nada, eine ruhige Nacht steht bevor.

Der gewöhnliche Straßenlärm von Sonntag, der daher rührt, dass die Städter sich aufs Land oder ans Meer verziehen und am Abend wiederkehren, bleibt aus, schließlich musste jeder zum Finale zurück sein.

Ruhe in der Stadt, bedächtige Ruhe. Kein Klagen, kein Schimpfen über den Schiedsrichter, nichts. Eine geruhsame Nacht, ja, wenn da nicht das andere Volksthema wäre: das Wetter, il caldo, die Hitze.

Anfang Juli herrschen Temperaturen wie im August, dem Monat, in dem alle die Stadt verlassen.

2. Juli 2012, Palermo, Via Villa Florio, 4:00 Uhr. Der Reisehalbleiter kann sich gar nicht erinnern, das Kopfkissen in der Badewanne versenkt, wieder herausgeholt und zurück unter den Kopf gelegt zu haben.

3. Juli 2012, Palermo, Via Villa Florio, 7:30 Uhr. Die Katzen rekapitulieren das Fußball-EM-Finale. 0:4 oder doch 4:0. Das war eine Nummer zu groß für die Italiener, denkt sich die kleine.

Palermitaner vor das Mikrofon zu holen, ist schon unter normalen Umständen keine leichte Aufgabe, aber bei der Hitze, nix nada, silenzio stampa. “Ich repräsentiere doch nur die Stimme des kleinen Mannes!” “Ja, genau das interessiert mich. Bürgerpflichten!” “No, lascia stare. Wir sagen eh, dass sich nichts ändert, auch wenn man den Mund aufmacht.” Trotz diverser Überzeugungsversuche will niemand etwas zu den katastrophalen Verhältnissen des Gesundheitswesens berichten.

Für eine Zeitung hätte der Reisehalbleiter tolles Material. Wer ein Leiden hat, kann sich auf das kostenlose (wird durch Steuern finanziert) Gesundheitswesen verlassen, er wartet sechs Monate und zahlt dann eine Selbstbeteiligung, die beispielsweise 40,- € kostet. “Da gehe ich doch gleich zu einem Privatarzt, da zahle ich zwar 60,- €, aber zumindest werde ich sofort behandelt.” Das aber ist kein Phänomen der Krise, sondern des Klientelismus’ und der Bürokratie. Das Gesundheitswesen wird auf diese Weise Schritt für Schritt privatisiert, ohne dass dabei politische Entscheidungsträger Einfluss nehmen würden.

Den Mund aufmachen, protestieren? Nein, nein. Bitte nicht.

Bei dem jetzt vierten Mal, dass ich in der lauschigen Via Chiavettieri Touristen zu für Italien ungewöhnlichen Zeiten beim Essen zuschaue und dabei das Lokaleigene Internet nutze, sitzt der Kaffee schlürfende Reisehalbleiter inzwischen mit am Tisch der Wirtin, die geduldig Patience auf ihrem Laptop spielt, Servietten zu Rosen faltet oder erklärt, dass das Lokal Ristorante a Vucciria heißt. Wenn mal wieder einer der neun Tische auf dem historischen Pflaster wackelt, greift sie zu ihren Accessoires (ich packe einen Koffer und nehme mit: einen Sonnenschirmhaken, eine Gabel und einen Flaschenöffner) und richtet das wackelnde Objekt. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Das Werkzeug wandert von Tisch zu Tisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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