
Titel für diesen Artikel gäbe es zur Genüge: „Mit dem Hollandrad in die Berge“, „Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“ oder auch „Bayrisch-Bluesig-Frech“. Der jetzt gewählte kommt ausnahmsweise ohne Ironie aus. Da ist einfach nur der Wunsch, etwas anderes zu sehen als die Tiefebene Bremens oder Kiels. Die geschätzten Leser könnten vermuten, der Reisehalbleiter kenne die Berge nur aus Filmen und hat nicht die physischen Kompetenzen, um einen Berg hoch zu wandern (Hollandrad in den Bergen), da er – wie so manch einer sagt – eben ein „Fischkopf“ ist. Über die körperliche Konstitution kann man streiten. Die Berge kennt er, seit die Großmutter ihn in die Schweizer Alpen führte, mit dem Onkel auch schonmal am Walchensee war und überall, wo er unterwegs ist, nicht den Ehrgeiz hat, einen Berg zu erklimmen, sondern einfach nur große Lust.
Wer mit dem Bayernticket einen kleinen Tagesausflug machen will, das steht fest, wird als Frühaufsteher (sic!) bestraft, es gilt erst ab 9 Uhr, nur Feiertags gilt es schon früher. Montag, der 30.4.2012, ist zwar ein sogenannter Brückentag, halb Bayern verzichtet darauf, einer Beschäftigung nachzugehen. Es ist sozusagen ein Halb-Feiertag. Was bleibt einem also anderes übrig als sich zu grämen und eine Normalfahrkarte zu lösen. Preis: 22,80 Euro, einfach, statt 29,- hin und zurück.
Angekommen in Kochel am See begibt sich der Halbgeleitete zunächst zur Touristeninformation. Die Masse der mit Meindl, Wanderstock und Thermohosen ausgestatteten Wanderer und Halbwanderer ist geleitet, hat sich vorab informiert. Sie nimmt also gleich den auf die Ankunft des Zuges abgestimmten Bus und eilt direkt zum Walchensee, der zweihundert Meter höher liegt als der Kochelsee und tschüß. Der Reisehalbleiter hingegen hat Zeit und unterhält sich, wie er so gerne tut, mit den Menschen vor Ort. Katja von der Touristeninformation kommt zwar aus Leipzig, kennt sich aber aus. Der Bus ist Weg, der nächste folgt zwei Stunden später. Warten ist nicht des Reisehalbleiters Tugend. Vorschlag: “Es gibt da einen Trampelpfad (immer am Zaun entlang), dann die alte kaum befahrene Straße nehmen, hin zum ersten Elektrizitäts-Wasserkraftwerk Deutschlands (man nutzte schon früh den Höhenunterschied der beiden Seen, um Energie zu gewinnen), dort einkehren. Die Curry-Wurst-Pommes ist gut. Dann von der Rückseite den Herzogstand (1731 m) erklimmen. Ja, den Pionier-Weg kann man laufen. Ein Bekannter hat mal die ganze Tour gemacht, war am Abend völlig fertig. Der Gratweg? Da liegt Schnee, aber, wer geübt ist?” “Spätestens danach”, erwidert der Reisehalbleiter.
Alles nach Plan. Am E-Werk (604 m) lockt Stefan, der eher den Eindruck macht, nach Australien zu gehören, dort zu arbeiten und nicht im tiefen Bayern sesshaft zu werden, mit besagter Wurstspezialiät. Und tatsächlich: Ein Jahr machte er Work-and-Travel in dem Land der Traumpfade. Des Kellners Stundenlohn dort: 25 Dollar, ein Bier kostet derzeit kaum weniger. Ohne dort zu arbeiten, ist Australien der finanzielle Ruin für fast jeden Europäer. Heute rockt der angenehme Münchner die Besucher oder (noch) eher die Passanten mit ordentlichem Blues, bayrisch-bluesig-frech steht auf einem Holzbrett eingebrannt.
Der Aufstieg ist ein Traum: der Jocher-Höhen-Weg die Empfehlung nach der ersten Etappe Aufstieg: gemütliches Schlendern durch einen bayrischen Wald. Keine Menschenseele auf diesem Weg. Nur ein Jäger schießt zur Warnung an den Reisehalbleiter fünfmal in die Luft. Ein paar einsame Mountainbiker, die schieben. Das Mountainbike den Pionier-Weg tragen? Naa, sage ich, das würde ich nicht machen. Der Weg führt über Stock und Stein, vorbei an reißenden Bächen und Wasserfällen. Der Major Dr. phil. (!) hat ganze Arbeit geleistet. Ein verträumtes Tal ist die Verbindung zwischen dem einsamen Pionier-Weg und der Ski- und Massenwander-Schneise. Hier begegnet man sehr vielen Menschen, hier laufen sie den flotten, mit dem Auto befahrbaren Weg herunter.
Oben zeigt sich das Panorama auf den Walchensee, von der Rückseite das erste auf der Wetterseite.
„Dort angekommen empfehle ich das Panorama der Gaststätte und am Besten, man setzt sich nicht in die zweite Reihe, da sieht man das Panorama ja nicht. Also besser sich dazusetzen“, erinnere ich mich. Schleiche, ganz ermattet von der sechsstündigen Wanderung, herum. Ja, was soll’s. „Kann ich mich dazu?“ „Ja, sicher!“ Wer in einem bayrischen Biergarten kein Bier trinkt und keine 14 Jahre alt ist und Spezi schlabbert, bestellt sich eine Apfelsaftschorle. Erste Annäherungsversuche an den Mann und die beiden Frauen neben mir scheitern kläglich. Der Mann, hätte ich es doch geahnt, ist ein Einheimischer: „Mit den Schuhen über den Grat-Weg? Um diese Uhrzeit? Wir haben fast sechs Stunden gebraucht, sind bis zur Hüfte im Schnee versunken! Morgen, meinst du, sind hier mehr Leute, weil erster Mai ist. Morgen ist der Tag der Corona-Bavaria, aber das kennt ihr ja in Bremen nicht, morgen machen wir was ganz anderes als Wandern.“
Als das Schwergewicht bayrischer Grantigkeit sich kurz zurückzieht, fragt der Reisehalbleiter die Mädels: „Ist der immer so grantig?“ „Wieso?“
Flucht, weg, schnell. Die Abkürzung: „Erdrutsch, Matsch,“ sagt ein Anderer: mit den Schuhen net! Flucht, Flucht, weg, schnell. Was soll’s? Ab in die Seilbahn (6,70 Euro), weg, weg, weit weg von hier. Puh, durchatmen. Den Bus nehmen, weg, ganz schnell weg von hier. Der Bus, der dreimal am Tag fährt… Wenn ich den nehme, dann bin ich ja drei Stunden nach Hause unterwegs. Espresso bezahlt, Daumen raus. Die Rettung: Frank, Bernd und andere Kletterfreaks sind anders, sie sind Kocheler, aber anders. Es gibt weder die Kocheler, noch die Münchner oder die Männer…
„Der schwankt aber ganz schön, dein Bully, in den Kurven,“ sagt Frank. Der Autor dieser Zeilen erwidert: „Wenn man von der Fahrt nichts spürt, ist das ja kein Fahrgefühl.“ Die Gesellschaft im Bus lacht. Bernd: „Die da oben im Norden haben einen ähnlichen schwarzen Humor wie wir im Süden, aber dazwischen ist nichts.“ Wie dem auch sei, der Norden, der Süden…
17:01 Uhr Ankunft am Bahnhof, Abfahrt Zug nach München 17:03 Uhr, der Reisehalbleiter hat immer noch kein Bayernticket, keine Zeit. Ab in den Zug. „Fahren Sie mit dem Bayernticket, nehmen Sie mich mit? Ich war heute zu früh und jetzt zu spät, um mir eines zu kaufen.“ „Ja, machen wir, aber so eine komische Erklärung können Sie sich beim nächsten Mal sparen!“ Wie sich herausstellt wohnen die beiden (Gertraude und ihre Freundin, deren Name ich vergessen habe) in Regensburg. Wir unterhalten uns also nett und fahren, ohne dass ich etwas dazuzahle nach München. Danke!
In München warten vier Bulgaren auf ihrer Fahrt nach Nürnberg auf mich; was sie erst erfahren, als ich sie anspreche. Letchkov, Stoitchkov, wir erinnern uns an bulgarische Fußballer von Weltrang.
Der Zug nach Nürnberg ist kein gewöhnlicher, in anderen Bundesländern fährt ein solcher als InterCity durch die Landen, er ist übervoll, kaum Platz. Meine Sitznachbarin blättert in ihrem Arabisch-Wörterbuch nach „schlau, gewitzt“ oder, wie der Jungtrompeter einwirft: „gerissen“. Na, höre ich mich sagen: „fuchsig, wie man dieses Bayernticket nutzen kann“, schwinge mich, in Pfaffenhofen angekommen, auf das „bei-einer-Auktion-für-Zwei-Euro-erstandene-Fahrrad“, falle ermattet in den Tiefschlaf und träume nicht von der Corona-Bavaria, was auch immer das sein mag. Ich will es nicht wissen, es sei denn irgendwann erzählt es mir jemand mit Charme…










