Smerdi – In german: Es stinkt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Des Reisehalbleiters Tugend ist es, die Balance zu halten, ein Drahtseilakt: Auf der einen Seite gilt es, das Maximum an Freiheit dem Reisehalbbegleiter einzugestehen, sich zurückzunehmen bei der Entdeckung eines Ortes, den einzuschlagenden Weg zu wählen oder ein Lokal, eine Pizzeria, eine Unterkunft anzusteuern.

In Neapel trennt sich die Spreu vom Weizen. Hier erkennt man den Meister seines Fachs, zu entscheiden, was zumutbar ist und, wann man besser sagt: Hier sollten wir deinem Wunsch widersprechend nicht weitergehen, hier sagt mir meine Erfahrung oder Intuition: meglio di no, besser nicht. In Neapel gibt es viele solcher Ort, die den Fremdling in Furcht und Schrecken versetzen, die einem die Laune verderben, die einen fragen lassen: Was machen die da, hier überschreiten die Indigenen eine Grenze. Hier ist Schluss. Hier wird es unangenehm.

Da ist zum Beispiel die Piazza Garibaldi oder der Corso Umberto I, der den Touristen sicher in die Altstadt führt. Menschen, die einem dermaßen penetrant Billigsocken andrehen wollen, dass die Frage im Raume steht: Warum glauben Menschen, damit Erfolg haben zu können. Billigschrott in allen Formen wird feilgeboten, richtiger Industriemüll mit einer furchteinflößenden Kraft an Mann und Frau gebracht, unglaublich nervtötend. Oder da ist der Besuch einer ursprünglich authentischen, wirklich guten Pizzeria, die einen aber dermaßen betrügt, dass man sich denkt: Mist, mal wieder hereingefallen. Die Einheimischen uns gegenüber zahlen andere Preise oder würden sie sonst zwei Pizzen essen, nach der Diätvorspeise, den obligatorischen Kroketten? Einem Neapolitaner, der eine Ruccola-Pizza empfiehlt, dem ist nicht zu trauen. Nimm die Beine in die Hand und geh, schnell. Die Pizza Marinara allerdings ist lecker, gut. Für zwei Pizzen, ein Bier und ein Wasser 18,- € zu bezahlen ist in Neapel allerdings Wucher!

Zwei Anthropologen unter sich. Der persönliche Reisehalbleiter des Autoren dieser Zeilen, der also ausnahmsweise „sich leiten“ lässt, erhält ein „Super, Danke für die Begleitung“ in den Stadtteil Sanità, wo kein Tourist zu sehen ist, weil hier die organisierte Kriminalität, einer der letzten Zufluchtsorte patriarchaler, überholter Gesellschaftsstrukturen, zugegen ist.

Vier Angestellte der Stadt empfangen zwei Anthropologen im Cimitero delle fontanelle. Hier wurde der Stein geschlagen, aus dem die Stadt erbaut wurde, hier verfrachteten die Neustädter (Nea Polis) aber auch die Gebeine eines Friedhofs, der bei einem Erdbeben eben diese zu Tage beförderte. Jeder Kopf hat einen Schutzpatron. Das kann auch der Senior Consulter von Eon sein, Hauptsache jemandes Seele weiht die Knochen. Der demütige Pappkarton als „Sarg“ ist aber schon ein bisschen komisch.

Ansonsten Standardprogramm: Spaccanapoli, Via Tribunale, fatto tutto, un caffè quà uno là, un sorbetto di limone là, eine wunderbares Erlebnis, sofern man die Regeln des Halbleitens verfolgt und die Seitenstraßen wählt.

Der abendliche Ausflug auf die Piazza Orientale entschädigt die mäßige Pizza. Bei einem Minzkaltgetränk beschließe ich, die Empfehlung – der besseren Perspektive halber – für ein Foto im gegenüber liegenden Haus zu bimmeln, um dort vom Balkon aus das Orientale zu knipsen. Im vierten Stockwerk angelangt: Ja genau so. Das ist die ideale Perspektive für das 50mm-Objektiv. Grazie, Barbara.

Der nächtliche Rückweg zum Hotel Casanova verläuft durch den Stadtteil, vom dem viele sagen: Nein, hier nicht durchlaufen, für mich die Alternative zum Corso Vittorio, der einzig schöne Weg in die zauberhafte Altstadt, auch wenn da nachts der Müll liegt und man auf sich und seine Wertgegenstände aufpassen muss: Occhio, Auge! Eine Touristin sagt: Smerdi. Ich erwidere, what language is this? Serbocroatian! Ok, in german es stinkt. Aber die Nase kann man sich im Notfall ja zuhalten. So spontan müssen Reisehalbleiter und Reisehalbbegleiter, der auch Reisehalbleiter ist, sein. Occhio, naso, domani, orecchio, Ohr!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Neapolis – detenuti e caffè

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Fahrt mit der Fähre ist die langsame und damit tatsächliche Lösung von einem Ort. Die faszinierende Stadt Palermo liegt dem Fährpassagier im Rücken, ein Projekt ist abgeschlossen. Die Stadt verbeugt sich ein letztes Mal vor dem Monte Pellegrino. Letizia Battaglia sagt: “Ich mag Palermo nicht. Sicher, Palermo hat seine Faszination, es bleibt aber alles beim Alten, nichts verändert sich. Neapel? Ich mag Neapel, diese Stadt erneuert sich ständig.”

Auf der Fähre befinden sich keine Touristen, zero, naja, uno. Bei einem Schluck Nero D’Avola und einem guten Stück Ricotta al forno, komme ich mit einer Gruppe von neapolitanischen Frauen ins Gespräch. Eine behauptet lachend, Deutsche zu sein und verweist auf ihr Wasserstoffblondes Haar, korrigiert sich aber recht schnell und erklärt sich für verrückt. Hypothese über die Unterschiede zwischen Neapel und Palermo: In Palermo greifen sich die Männer häufig in den Schritt, in Neapel sowieso, aber auch die Frauen machen mit und greifen sich permanent an die Brust, kontinuierlich. Repräsentativität: zwei von vier!

Während die Gruppe von vier Frauen und einem Jungen permanent mit irgendwem telefoniert, so Art Telefonscherze treibt und dabei in tosendes Gelächter ausbricht, zeigt der Deutsche ein Dauergrinsen, ob der Lebendigkeit dieser Menschen. “Was heißt denn schön auf Deutsch?” Später sagt sie: “Ich bin Schulz” und bringt damit vieles auf den Punkt. Die Konversation ist extrem komisch, sie versucht einen Angestellten der Fährgesellschaft zu überzeugen, mich in einer Kabine übernachten zu lassen. Die Schiffsbar ist schließlcih nur mäßig attratkiv. “Ach”, sagt sie “die kann man heute gar nicht mehr schmieren.”

Später erklärt Madama Verrückt: “Wir sind heute morgen mit Fähre nach Palermo gefahren, waren den Tag bei unseren Männern in Agrigento und fahren heute mit der Fähre nach Neapel zurück, unsere Männer sind im Knast, detenuti.” Ach!? Ich mache eine paar Fotos von denen, die arbeiten gehen, um den Männern im Knast Geld für Zigaretten zu geben. “Aber nicht auf facebook stellen! Das wäre unseren Männern gegenüber unhöflich. Aber das Foto “Italia 1″, das wollen wir (Italia 1 ist ein Berlusconi-Fernsehsender und streut immer wieder kreischendes, Daumen-nach-oben-haltendes Volk ein, um die Zuschauer bei Laune zu halten). Das Foto mit diesen Neapolitanerinnen – Frau Wasserstoffblond-Schulz, sehr kräfig, nebenbei gesagt – ist aber tatsächlich originell.

Früher hatten Italiener zwei Handies, eins für diesen, eins für jenen Anbieter. Heute hat der Italiener, in jedem Fall der Neapolitaner, ein Handy und ein Smartphone oder auch Gesichtsphone, denn damit machen sie nichts anderes als Facebook, eine Sucht.

Neapel am Vormittag: Ich rühre bedächtig meinen Kaffee und schmelze dahin, beim Anblick dieser feinen Crema. Ach, wie schön ist das Rühren.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Nach Ihnen – Eine Frau auf dem Rad

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Jahr ist nach dem chinesischen Kalender das Jahr des Fahrrads – könnte man meinen. Der Reisehalbleiter hat schon so manchen Landstrich mit ganz unterschiedlichen Gefährten vermessen.

In Palermo gibt es das Fahrrad von Marta. Auch wenn die Sitzposition an einen Affen auf dem Schleifstein erinnert, so ist es doch recht angenehm, mit dem Fahrrad herumzuflitzen, statt auf Stadtbusse zu warten, die eh nicht kommen. Da ist die bekannte Linie 806 nach Mondello, der Karibik, der überfüllten Karibik Palermos. Ein Ort, den die Wasserratte meiden sollte. Hier gibt es nichts zu holen.

Statt also mit dem Bus nach Mondello zu fahren, ergab sich die Möglichkeit mit einer Palermitana D.O.C. nach Addaura zu radeln.

Der Ex-Palermitaner kennt die Verhältnisse auf den Straßen von seinem viermonatigen Aufenthalt im Jahr 2011. Die Erfahrung mit einer Bekannten durch den Straßenverkehr zu heizen, das ist neu.

Man stelle sich das mal vor: Während der Halburlauber geschnitten wird, halten die Palermitaner an, um Frau passieren zu lassen. Kavaliere, chapeau. Via Francesco Crispi, Stau, Stress, Eile. Man heizt die Hafenstraße sechsspurig auf und ab. Kein normaler Mensch würde hier Fahrrad fahren.

Der Mann auf dem Damenrad bleibt stehen, wartet bis es grün wird. Die Frau, es ist rot, drei Reihen Autos walzen die Straße hoch, rollt an und was passiert? Alle halten an, es ist noch immer rot, alle halten an und lassen sie passieren. Der Reisehalbleiter bleibt verdutzt stehen. Noch ehe er überlegen kann, ob er auch bei rot fährt, sind die Palermitaner schon wieder in Bewegung.

Nach Ihnen, Madame.  E ciao, Palermo.

 

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Silenzio stampa: Reden wir vom Wetter

 

 

 

 

 

 

 

 

Ballarò, 1. Juli 2012, 20:45 Uhr. Voller Spannung sitzen, stehen, kreischen, singen, brüllen, hupen, lärmen und tröten die Ballaroten. Menschenmassen haben sich in der Kathedrale des Fußballs versammelt.

Ballarò, 1. Juli 2012, 22:33 Uhr. Statt auf der Leinwand die Siegerehrung zu verfolgen, hört und sieht man Pink Floyd auf der Leinwand. Die nahezu einzige Soundkulisse. Kein Hupen, Tröten, Pfeifen, Trällern, Applaudieren. Nix nada, eine ruhige Nacht steht bevor.

Der gewöhnliche Straßenlärm von Sonntag, der daher rührt, dass die Städter sich aufs Land oder ans Meer verziehen und am Abend wiederkehren, bleibt aus, schließlich musste jeder zum Finale zurück sein.

Ruhe in der Stadt, bedächtige Ruhe. Kein Klagen, kein Schimpfen über den Schiedsrichter, nichts. Eine geruhsame Nacht, ja, wenn da nicht das andere Volksthema wäre: das Wetter, il caldo, die Hitze.

Anfang Juli herrschen Temperaturen wie im August, dem Monat, in dem alle die Stadt verlassen.

2. Juli 2012, Palermo, Via Villa Florio, 4:00 Uhr. Der Reisehalbleiter kann sich gar nicht erinnern, das Kopfkissen in der Badewanne versenkt, wieder herausgeholt und zurück unter den Kopf gelegt zu haben.

3. Juli 2012, Palermo, Via Villa Florio, 7:30 Uhr. Die Katzen rekapitulieren das Fußball-EM-Finale. 0:4 oder doch 4:0. Das war eine Nummer zu groß für die Italiener, denkt sich die kleine.

Palermitaner vor das Mikrofon zu holen, ist schon unter normalen Umständen keine leichte Aufgabe, aber bei der Hitze, nix nada, silenzio stampa. “Ich repräsentiere doch nur die Stimme des kleinen Mannes!” “Ja, genau das interessiert mich. Bürgerpflichten!” “No, lascia stare. Wir sagen eh, dass sich nichts ändert, auch wenn man den Mund aufmacht.” Trotz diverser Überzeugungsversuche will niemand etwas zu den katastrophalen Verhältnissen des Gesundheitswesens berichten.

Für eine Zeitung hätte der Reisehalbleiter tolles Material. Wer ein Leiden hat, kann sich auf das kostenlose (wird durch Steuern finanziert) Gesundheitswesen verlassen, er wartet sechs Monate und zahlt dann eine Selbstbeteiligung, die beispielsweise 40,- € kostet. “Da gehe ich doch gleich zu einem Privatarzt, da zahle ich zwar 60,- €, aber zumindest werde ich sofort behandelt.” Das aber ist kein Phänomen der Krise, sondern des Klientelismus’ und der Bürokratie. Das Gesundheitswesen wird auf diese Weise Schritt für Schritt privatisiert, ohne dass dabei politische Entscheidungsträger Einfluss nehmen würden.

Den Mund aufmachen, protestieren? Nein, nein. Bitte nicht.

Bei dem jetzt vierten Mal, dass ich in der lauschigen Via Chiavettieri Touristen zu für Italien ungewöhnlichen Zeiten beim Essen zuschaue und dabei das Lokaleigene Internet nutze, sitzt der Kaffee schlürfende Reisehalbleiter inzwischen mit am Tisch der Wirtin, die geduldig Patience auf ihrem Laptop spielt, Servietten zu Rosen faltet oder erklärt, dass das Lokal Ristorante a Vucciria heißt. Wenn mal wieder einer der neun Tische auf dem historischen Pflaster wackelt, greift sie zu ihren Accessoires (ich packe einen Koffer und nehme mit: einen Sonnenschirmhaken, eine Gabel und einen Flaschenöffner) und richtet das wackelnde Objekt. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Das Werkzeug wandert von Tisch zu Tisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kathedralen: Von Handwerkern und Buchhaltern

 

 

 

 

 

 

 

„Von denjenigen, die das Kommando haben, gibt es viele, ich aber heiße Supercomando“, sagt Supercomando aus Ghana. Er isst seinen Mais mit den Händen. Er ist handwerklich begabt. Den Mais mit dem Zähnen abbeißen? Das machen nur Tiere. Er puhlt die Maiskörner mit aller Gelassenheit in die hohle Hand und wirft sie sich in den Rachen. Dem Menschen wurden Hände gegeben, warum also wie ein Tier essen, sagt der Oberkommandant. Der Reisehalbleiter erinnert sich an den Vortag, an dem er mit voller Inbrunst seinen Maiskolben abknabberte. Was für ein Tier mag ich sein? Eine Antilope, ein Gnu? „Look!“ Er zeigt mir seine Tischtennisplatten. „Das habe ich mit meinen Händen gemacht.“ Wait, Supercomando, I’ll take a picture of you! Statt sich aufzuplustern, zu gockeln, den Arm auf sein Werk zu legen, zu posieren, puhlt der Ghanaer mit aller Gelassenheit seinen Maiskolben. Das nenne ich Demut.

Mario Balotelli ist gar nicht adoptiert worden, er lebte aber hier, hier im Ballarò, turnte im Santa Chiara herum, wo der Feldforscher einst ehrenamtlich Nachhilfestunden gab. Weil die Verhältnisse Anfang der neunziger Jahre für Ghanaer, so meine Vermutung, nicht viel besser waren als heute, landete er in Norditalien, wo sich seine neuen Geschwister bestens um ihn kümmerten und ihn protegierten. Womöglich war die wirtschaftliche Lage in Palermo besser, für Immigranten in Sizilien gab es aber wohl auch damals nicht viel zu lachen. Er wuchs wie inzwischen jeder weiß in Brescia auf und ist ziemlich verrückt. Wobei die Tatsache, dass er Buchhalter gelernt hat, nicht so gut in die Legendenbildung eines Wahnsinnigen hineinpasst.

Wie dem auch sei, als Buchhalter muss du präzise arbeiten, präzise Flanke schlagen. Den Ball irgendwo ins Tor ballern? Nein, das geht nicht. Er muss mit aller buchhalterischen Präzision da in den Winkel, dass sich die Gesichtszüge anderer Nationen biegen. Irgendwo nach dem Tor hinter dem Tor rumrennen, die Säge machen, sich an einer Eckfahne platzieren und tanzen. Nein, das ist unwürdig für einen Buchhalter. Die Nüchternheit die Supercomando, nein, Supermario nach einem Treffer in der Premierleague an den Tag legt, ist beeindruckend. Balotelli ein Krieger? Nein, ein Buchhalter wie von Monty Python geschaffen, nüchtern, zurückhaltend, zuverkommend, gewählt in der Ausdrucksweise, was man mit einem macht, der einen mit Bananen bewirft, das ist Balotelli. Oder in seinen eigenen Worten: The good, the bad and the funny.

Ballarò die Wiege des Handwerks und der Buchhaltung hat eine Kathedrale erschaffen, eine Kathedrale des Fußballs. Hier kommt zum Ausdruck, was Fußball ist, Fantasie, Einfallsreichtum, Begeisterung für den Sport. Und hier wird deutlich, was oder wie Ballarò ist, einfallsreich, Wahnsinn.

Viel Spaß beim finalen Kick. Wenn Ihr mich sucht, ich bin nicht im Weserstadion, sondern auf der Piazza Ballarò, inmitten einer Grillparty, ich, bei gefühlt 40°C im Schatten!

Strapatze! Zurück auf die Piazze!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sizilien: Die Regeln der Antilogik

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Versuch, die Problematik des Südens zum Ausdruck zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt. Tourismus funktioniert nicht von alleine. Er funktioniert vor allem dann nicht, wenn diejenigen, die die größte Verantwortung tragen, auf das falsche Pferd setzen. Überall, sei es in Griechenland, sei es in Sizilien, Süditalien im Allgemeinen oder auch Spanien, überall wird ein Tourismus gefördert, der größtenteils nicht nachhaltig ist und dabei schon gar nicht auf die Wünsche und die Bedürfnisse derjenigen eingeht, die als die letzten ihrer Art noch im Süden Urlaub machen. Wer den Mittelmeerraum schätzt denkt zurück an die Zeit, in der in Griechenland alles günstig, provisorisch, authentisch, urig oder auch traditionell war – für den Fremden.

Mit der sogenannten Leugnung der Zeitgenossenschaft stirbt die Idee, dass Traditionen oder auch Lebensformen fern des kapitalistischen Fortschritts bestehen können. Jeder muss die Normen der Moderne annehmen und akzeptieren. Eine Entwicklung zurück zu anderen Lebensformen, zu einem traditionellen, geerdeten Lebensstil ist oft gleichbedeutend mit einem Rückzug aufs Land. Im Wendland zum Beispiel, wo man Kunsthandwerk produziert oder die eigenen Kühe melkt, die Eier von den eigenen Hühnern isst, dort weht der Wind des „Grün im Gesicht“. Eine Mischform von Fortschritt, Nutzung moderner Medien, Technik und ökologischer Lebensweise wird oft gegenseitig abgeschätzt.

Im Süden gibt es Initiativen auch dieser Art, bei gleichzeitigem Bestehen von nahezu autark lebenden Bauern. So befindet sich nahe der schönen Post in Palermo ein „BioBistrot“ mit angeschlossenem „Supermarkt“. Hier finden die Biohungrigen die gute, deutsche Andechser-H-Milch für 1,05 €, während die Industrie-Milch aus sizilianischen Landen nicht unter 1,20 € zu haben ist. Bizarr die Idee, etwas habe die Aura von „grün“, wenn es über die Alpen den Weg auf die Insel findet. Auch im Angebot: deutsche Ziegenmilch.

Initiativen gibt es immer wieder. So auch auf einem ehemaligen Industriegelände, der sogenannten Zisa, wo auch das Goethe-Institut-Palermo seinen Sitz hat. Hier werden deutsche Filme gezeigt, Ausstellungen organisiert, Vorträge gehalten, man spricht und lernt deutsch, kurz „La deutsche Vita“.

Wenn die Sizilianer etwas in die Hand nehmen wollen, stehen sie vor einem großen Problem, vor sich selbst oder ihresgleichen. Der abgesprochene Treffpunkt um 9:30 Uhr wird ohne Zustimmung der anderen Partei an einen anderen Ort verlegt. Der Portiere (Concierge aber auch Torhüter) hat keine Ahnung, wo das Treffen der unterschiedlichen Teilnehmer stattfindet. Eine gute halbe Stunde fragen sich zehn bis fünfzehn Personen, wo Letizia Battaglia ist. Am Ende, stellt sich heraus, befand sich die Gruppe gut versteckt in einem Seitengebäude.

Um in Sizilien etwas auf die Beine zu stellen, bedarf es einer widersprüchlichen Haltung. Du darfst niemandem Konkurrenz machen, denn Konkurrenz belebt das Geschäft nicht wie in anderen Landen, sondern führt zu Verdrängung und Veränderung. Veränderung ist ein Begriff, der schon in dem berühmten Roman und Film „Il Gattopardo“ zum Ausdruck kam. „Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert.“ Die Interpretation dieser widersprüchlichen Aussage eines Gesprächspartners des heutigen Vormittags kommt ohne jede Ironie aus. „Wenn man permanent etwas verändert, gibt es keine Entwicklung.“ Sobald ein Politiker seinen Job gut macht, wird er ausgetauscht. Wenn die Führung eines Unternehmens gut arbeitet, wird sie ausgetauscht, schließlich könnte sie Erfolg haben und damit Macht erlangen.

In Sizilien, erklärt F., gibt es keine Logik, es gibt nur Logiken. Wer etwas auf die Beine stellen will, muss die Regeln der Antilogik kennen und nach ihnen handeln.

So auch bei dem Vorhaben vieler erfolgreicher Fotografen, auf besagtem ehemaligem Industriegelände ein Photographie-Museum zu eröffnen. Eine knapp 300 Quadratmeter große Halle ist bereits renoviert, für wen und was weiß kein Mensch. Hauptsache, es sind schon an die 30 Klimaanlagen installiert und alles ist in schönem Grau gehalten. Für das Foto-Museum ist das nicht so geeignet, denken sich die Initiatoren, vielleicht findet sich ein anderes Projekt irgendwann für diesen hergerichteten Raum. Irgendwann wird es schon passen, was ein paar hunderttausend Euro gekostet hat.

Ein gutes aber hat diese Antilogik: Vor dem Goethe-Institut im Schatten sitzend fragt mich eine Frau mit Rucksack bewaffnet, wo denn Letizia sei. „Keine Ahnung. Die Gruppe dahinten wartet seit einer halben Stunde auf sie.“ Als ich die Frau mit Rucksack in dem gutversteckten Nebengebäude wiedertreffe, sagt Letizia: Sie ist Sängerin, lebt in Berlin. „Sie sind aber nicht etwa Etta Scollo?“ „Doch, das bin ich!“ Eine sizilianische Berühmtheit – in Deutschland. „Sehr erfreut! Ich war auf Ihrem Konzert in der Glocke, das ist Jahre her.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Nach der Niederlage: auf Stimmenfang

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Preise bestimmen das Ergebnis, könnte die Interpretation dieses Fotos zum Ergebnis haben. Oder: Der Cocktail- und Schießmeister hatte seine Vodoo-Finger im Spiel.

In Palermo, der Geburtsstadt des Straßenkickers Balotelli, der von einer italienischen Familie aus Brescia adoptiert wurde und allein aufgrund dieser Besonderheit italienischer Nationalspieler ist, platzt man vor lauter Stolz.

Stimmen in den Seitenstraßen:

“Das ist die Zukunft Italiens: Integration, Schwarze schießen die Tore!” – “Die Deutschen haben noch nicht bewiesen, dass sie eine intakte Mannschaft sind, sie lagen noch nicht zurück.” – “Italien gewinnt 1000 Prozent!” – “Mit Merte wär’ das nicht passiert.” – “Auf dass die bessere Mannschaft gewinnt – das sind wir.” – “Wenn Italien gewinnt, redet man nicht mehr als sonst über Fußball. Wenn sie verlieren, reden die Italiener über nichts anderes.” – “Der ist Halbspanier, Halbdeutscher – die eine Hälfte haben wir schon geschlagen.”

Der Ghanaer auf seinem Roller ist stadtbekannt. Er fährt alle Orte an, wo sich Menschen treffen, spielt seine Musik und beschallt die Plätze mit einem blechern klingenden Lautsprecher. Am Tag des Halbfinals spielt er die Nationalhymne und wurde wie verrückt gefeiert. Er ist es auch, ziemlich verrückt. Fazit: Um in die italienische Nation aufgenommen zu werdem, muss man a) verrückt sein und b) die Nationalhymne schätzen.

Heute oder spätestens morgen muss der Reisehalbleiter seine Wettschulden begleichen, Mist.

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“Mit der AWO nach Palermo”

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Reisen war einst ein beschwerlich Ding. Über Monate reiste der Nordnomade Goethe über die Alpen nach Sizilien. Heute ist das alles ein bisschen leichter. Der Reisehalbleiter schätzt Billigflieger nicht, manchmal aber geht es nicht anders. Dennoch, die Atmosphäre, die das Fliegen in einem Überlandbus hervorruft, ist einzigartig. Es kommen Erinnerungen hoch von damals: Landverschickung mit der Arbeiterwohlfahrt, kurz der AWO. Frei nach Michel Houellebecq: Sich in einen Billigflieger setzen ist wie in „Ferien fahren“, während ein Flug mit Fluggesellschaften wie Lufthansa oder Air France an eine Geschäftsreise erinnert, ist der Transit mit Ryanair ein Abenteuer, ein beschwerliches zudem.

Frankfurt oder besser Hahn, ein ehemaliger Militärflughafen, der als solcher 2001 noch zu erkennen war, liegt irgendwo auf dem Land, dort kommt der Urlauber nur mit einem Bus hin. Dort steigt das Flugzeug in die Lüfte und bringt die erschöpften Arbeiter in den Süden. Ryanair, die Arbeiterwohlfahrt der Moderne? Nein, denn die AWO erfüllt noch heute einen guten Zweck im Vergleich zu den Billigfliegern. Erschwinglich muss es sein, viel kann sich der Sonnenhungrige nicht leisten. Die Besonderheit eines Fluges nach Sizilien ist jedoch, dass weniger Touristen, denn Menschen mit Migrationshintergrund die engen Plätze einnehmen. Dem Wahnsinn nah, was bei so einem Flug mit Italienern oder Sizilianern passiert, Chaos pur. „Bitte bleiben Sie angeschnallt bis das Flugzeug zu vollständigem Stillstand gekommen ist. Hinsetzen dahinten!!!! Mobiltelefone aus!!!! Silentium, denkt sich ein besonnener Fluggast.

Zurück zur Arbeiterwohlfahrt; wenn sich gleichzeitig zwei Gates öffnen, ist der Aufbruch vergleichbar mit der Situation, in der Kinder mit der AWO auf Reisen gehen. Ist das mein Bus oder doch der da hinten oder gar der da vorne? Passagiere ergießen sich auf das Rollfeld. Alle stürzen in den erstbesten Flieger. Der Reisehalbleiter spricht drei attraktive Frauen aus dem Baltikum an: Ihr aber müsst den anderen Flieger nehmen, ihr wollt doch nicht nach Sizilien, oder? Ach, warum nicht erwidern die jungen Frauen und kichern, ziehen aber bedauerlicherweise ab und pflanzen sich in das Verkehrsmittel nach Kaunas. Gute Reise. Die Boeing nach Trapani ist übervoll, Gepäck wird von einer Ecke in die andere gestopft, es wird nicht bequemer. Doch dann hat der Steward eine bahnbrechende Idee, schließlich sollte es noch neunzehn freie Plätze geben: „This plane is not going to Kaunas, but to Trapani.“ Hektisch greifen einige Passagiere zu ihren Normtaschen und ergreifen die Flucht, stürzen hinaus auf das Rollfeld und steigen um. Umsteigen auf dem Flughafen, das kann nur Ryanair.

Sizilien, schönes Sizilien. Franco ist Sizilianer, hat dreißig Jahre in Rüsselsheim als Koch gearbeitet. Dann hatte er die Schnauze voll von der depressiven Atmosphäre, die in deutschen Landen vornehmlich bei Nieselregen, manifest durchdringend, tiefgreifend werden kann. Sizilien sei ja sowieso das schönste Stück Land auf Erden. Mag sein. Franco erklärt den Unterschied zwischen den Deutschen und den Sizilianern. Ein Deutscher kann sich mit seinen beiden Augen auf das Glück und den Genuss konzentrieren, tut es aber selten. Der Sizilianer sieht anders: Mit einem Auge genießt er das Leben, mit dem anderen passt er auf, dass ihn niemand bescheißt. Wenn du eine Rechnung begleichen musst, kannst du einem Deutschen deine Hand mit all deinem Geld reichen, er nimmt nur das, was ihm zusteht und zwar genau abgezählt, preciso.

Nach so regenreichen Tagen im Land der Dichter und Denker, drinnen ist nicht draußen, steigt dem Wohlfahrenden schwüle, warme bis heiße Luft in die Nase, die lange Hose schmiegt sich eng an das Bein, endlich Sommer. Danke Süden, dass es dich gibt. Kommt alle her und gebt euer Geld hier aus, statt auf Usedom in den Neoprenanzug zu klettern. Der Süden Europas braucht uns und wir brauchen ihn.

Szenenwechsel: Ein Vierrad gibt Gas, dass die Reifen glühen, inmitten einer ruhigen Straße in Palermo unweit der Hafens. Ungläubig schaut der Reisehalbleiter einen Passanten an. Stronzo, Blödmann! Der Sizilianer erwidert: No, testa di cazzo (Pimmelkopf oder Riesenarschloch)! Was ist denn der Unterschied zwischen testa di cazzo und stronzo, frage ich. Naja, stronzo, das ist normal. Der da ist ein testa di cazzo.

Draußen ist nicht drinnen. Die Leinwände sind präpariert. Der Autor dieser Zeilen pendelt in Gedanken: Wenn Italien gewinnt, wird es am Sonntag lustig in Palermo und naja, die DFB-Jungs haben ja ganz ordentlich gespielt. Zum Glück traf ich einen Gefährten namens Luc, ein Viertel Engländer, ein Viertel Südafrikaner, ein Viertel Franzose, ein Viertel Uruguayer. Endlich einer, der mich versteht – mit einem Grinsen im Gesicht.

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Eine Filmempfehlung

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“Cafésieren III”: Romantisieren

“Der Eingang zur Ausstellung war halb von einer großen Tafel versperrt, die zu beiden Seiten einen Durchgang von zwei Metern Breite freiließ und auf der nebeneinander ein Satellitenfoto von der Umgebung des Großen Belchen [höchster Berg in den Vogesen im Elsass] und die Vergrößerung einer Michelin-Departementalkarte vom selben Gebiet zu sehen waren. Der Kontrast war frappierend: Während auf dem Satellienfoto nur eine Suppe aus mit verschwommenen bläulichen Flecken übersäten, mehr oder weniger einheitlichen Grüntönen zu erkennen war, zeigte die Karte ein faszinierendes Netz von Landstraßen, landschaftlich schönen Strecken, Aussichtspunkten, Wäldern, Seen und Pässen. Über den beiden Fotos stand in schwarzen Lettern der Titel der Ausstellung: »DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET.«” (S. 78).

Aus Michel Houellebecq “Karte und Gebiet” (2010)

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